2. April 2008

Die Ära Karl Richter in München: Die Jahre 1969 ff. [DE]

Der absolute Höhepunkt für alle Mitwirkenden in Chor und Orchester war zweifelsohne die knapp dreiwöchige Japan-Tournee im Frühjahr 1969 mit zwölf Konzerten in Tokio, Osaka und Yokohama. Auf dem Programm standen ausschließlich Werke von Bach: die h-moll-Messe, die beiden Passionen, das Magnificat und weitere Kantaten sowie Orchesterwerke.



Vor dem Abflug in München Riem

Paul Meisen

"Japan war sicherlich der Höhepunkt. Beeindruckt waren wir von der Wechselwirkung vom Podium aus, Karl Richters Ausstrahlung, aber auch die Wechselwirkung vom Publikum her. Es war die erste ungekürzte Aufführung der Matthäus-Passion, die in Japan erklungen ist. Und wir erinnern uns an den wunderschönen großen Saal Bunka Kaikan, voll bis auf den letzten Platz, und das Publikum hatte die Texthefte vor sich. Sie verfolgten alle einzeln den Text in Deutsch. Und sie blätterten alle um, wir spürten, dass alle umblätterten, wir hörten aber kein Geräusch, die Konzentration war so faszinierend. Das war wohl die beeindruckendste Matthäus-Passion meines Lebens. Diese Geschlossenheit, diese Einheit zwischen Hörern und Spielern, da ging kein Blatt dazwischen, das war ein Ganzes. Für mich war es das Erlebnis der Matthäus-Passion."



Bachs Hohe Messe in Bunga Kaikan, Tokyo

Für die zweite Russland-Tournee 1970 war eigentlich Karl-Christian Kohn als Bassist vorgesehen gewesen, zumal neben der h-moll-Messe als zweites Werk Haydns Jahreszeiten auf dem Programm stand.

Karl Christian Kohn

"Mein Vater war krank, und wir wussten, dass das nicht mehr sehr lange gehen würde. Aber dass das ausgerechnet zu meinem Geburtstag dann kam, das hat mich so erschüttert. Es war es mir einfach nicht möglich, zu singen. Ich habe auch mit Richter noch gesprochen, mir war es nicht möglich, den Fuß aus dem Haus zu setzen und zu sagen, ich singe jetzt. Obwohl mich alle bekniet haben, komm doch, sing doch. Ich hab gesagt, ich will meinen Vater noch einmal sehen, ich fahre zu meinem Vater nach Hause und beerdige ihn."

Für Karl-Christian Kohn sollte nun Siegmund Nimsgern einspringen, der in den Folgejahren eine feste Größe in Richters Gesangsensemble darstellte.



Siegmund Nimsgern

Siegmund Nimsgern

"Ich wurde aus München von Herrn Vetter, dem damaligen Organisator, angerufen: „Wir stehen hier am Flughafen und wollen nach Moskau und Leningrad, mit h-moll-Messe und Jahreszeiten, mit dem Münchener Bach-Chor unter Karl Richter, können Sie kommen?“ Ich hab gesagt, ja wunderbar. „Sie kriegen ein Pre-paid-Ticket, Sie fliegen heute Mittag nach Kopenhagen, da übernachten Sie und am nächsten Tag fliegen Sie nach Moskau ohne Visum, Sie werden dort abgeholt, bekommen ihr Visum, und am Abend ist im Tschaikowsky-Konservatorium die h-moll Messe, ohne Probe, ohne alles.“

Dort sah zum ersten Mal in meinem Leben live Karl Richter. „Guten Abend“, „Ja, Sie kennen das Stück, ja gut, okay.“ Getrennt kamen wir dann im Tschaikowsky-Konservatorium an, Richter strich mir kurz über die Wange und sagte: „Sie kennen das ja alles“, um sich noch mal zu versichern. Ich sagte: „Ja, alles okay“, und dann habe ich das gesungen, was er mir vorgegeben hat. Die ganzen Tempi usw., das war alles richtig. Wir haben uns fast blind, ohne ein Wort, verstanden. Und ich glaube, er hat das auch so empfunden. Und ich war natürlich glücklich und stolz, mit diesem für mich fast Halbgott in Sachen Bach, Karl Richter, und mit dem Bach-Chor auf diese Weise zusammen zu kommen."



Karl Richter

In 1967 hat Siegmund Nimsgern den Mendelssohn-Wettbewerb in Berlin gewonnen.

Siegmund Nimsgern

"Da hab ich natürlich Mendelssohn gesungen, unter anderem. Und ich glaube, dass ich mit der Arie, die ich immer bei Wettbewerben gesungen habe: „Ist nicht des Herren Wort wie ein Feuer“ natürlich die Leute begeistert habe. Dieses Stück haben die anderen immer gefürchtet, weil es eben die reinste Materialschlacht ist. Ich habe auch Ravel, ich habe alles mögliche gesungen, aber zu dem Elias hatte ich schon immer ein besonderes Verhältnis, er hat mich vom Anfang meiner Karriere an bis heute begleitet. 1964 habe ich ihn zum ersten Mal gesungen, da war ich noch im Studium. Ich glaube, dass ich sogar mit meiner bescheidenen Mitwirkung ab und zu diesen Elias für manche Chöre und für manche Dirigenten durchgesetzt habe. Ich habe gezeigt, das ist eine tolle Rolle, das ganze Stück ist toll."



Probe im Großen Saal des Tschaikowsky-Konservatoriums, Moskau